(Foto: Spotify/ Universal Music)
Gleich nach dem ersten Release von Kanye’s neuem Album in einem der vielen Londoner Clubs rund um die Brick Lane, die mit intellektuell-anmutenden Hip-Hop-Anhängern nur so überquellen, äußern sich die Fans eher negativ über „Life of Pablo“. „Was ich an Kanye so liebe, ist dass jedes seiner Alben nicht nur ein gutes Album war. Jedes Album war der Beginn eines neuen Genres!“, bemerkt Zayd, 22, der schon auf fünf Kanye-Konzerten war. Von „Life of Pablo“ zeigt er sich eher enttäuscht.
Auch die professionellen Kritiken fallen -für Kanye’s Verhältnisse- eher gemischt aus. Der Guardian gibt ihm sogar nur 3 von 5 Sternen- ein ziemlich hartes Urteil.
„Life of Pablo“ sollte jedoch keineswegs unterschätzt werden. Kein neues Genre? 3 von 5 Sternen?
Nein. „Life of Pablo“ ist 2016. „Life of Pablo“ ist Zeitgeist.
Religion
Das Album beginnt gleich mit einem sehr gospelartigen Song. „I love this album. But why did he have to make it so religious?“, bemerkt ein Kommentar auf Youtube. Mir drängt sich sofort der Gedanke auf, wie ernst ein Mensch wie Kanye es meinen kann, einen religiös-wirkenden Song wie „Ultralight Beam“ als ersten Song auf seinem Album zu bringen. Ist das derselbe Kanye, der sich gerne mal Yeezus nennt? Derselbe Kanye, der 2013 für 3 Millionen US-Dollar bei dem kasachischen Diktator aufgetreten ist, obwohl alle anderen Künstler den Auftritt aus humanitären Gründen abgesagt haben? Derselbe Kanye, der später im Album darüber prahlt, wie er Taylor Swift („that bitch“) berühmt gemacht hat durch seine kontroverse Unterbrechung der MTV Video Music Awards 2009, nach der Präsident Obama ihn öffentlich einen „Vollidioten“ („Jackass“) nannte?
Ja, er ist es. Er ist bipolar, mindestens. Multipolar noch eher. Und genau diese Multipolarität, diese Spannung zwischen Gut und Böse, Religiosität und Sünde, Beleidigungen und Entschuldigungen, ist das, was zeitgenössische Kunst ausmachen sollte.
„Life of Pablo“ repräsentiert nicht nur mit diesem Song, sondern auch mit Songs wie „Father Stretch my Hands“, oder „Low Lights“, genau jene Spannung, welche Religion und Religiosität im 21. Jahrhundert ausmacht. Die Spannung zwischen fragmentierter Religion, und der oft von Unvollkommenheit, von Fehlern und Sünden geprägten Realität. Das Vorhaben,
„We don’t want no devils in the house, God! We want the Lord, and that’s it!“
(Ultralight Beam)
und die oftmals von Kontroversen, Versuchungen, moralischen und religiösen Fehlern geprägte Realität, wie unter anderem in den Songs „Famous“ oder „Fade“ beschrieben. Kanye hat diese Spannung auf „Life of Pablo“ sehr akkurat herübergebracht. Ob Marteria „Ultralight Beam“ schon vorher gekannt hat, als er in „OMG“ (2014) fragte
„Muss ich sein wie Mohammed, Buddha, oder Kanye?“
(Marteria, OMG)
Fragmentierung und Unvollständigkeit
Das Album ist stark geprägt von einem unvollständig wirkendem Vibe, der sich über das ganze Album zieht. Und noch mehr, das Album wurde tatsächlich nach seinem Release noch mehrmals überarbeitet. Es ist nicht nur ein fakes, auf postmodern gemachtes Album. Es ist wirklich so fragmentiert, unvollständig. Kaum Hip-Hop-Beats. Kanye selbst steht oftmals nicht einmal im Vordergrund. Die Beats wirken teils hypnotisierend-einschläfernd, die Texte unzusammenhängend.
Das Album steht wie kein zweites für Internet, Social Media, und postmoderner Fragmentierung in ihrer reinsten Form.
Erstmals wurde „Life of Pablo“ nur auf Tidal, Jay-Z’s hochqualitativer Streamingplattform, veröffentlicht. Bis heute bleibt das Album ein reines Streaming-Album. Und mehr noch, „Life of Pablo“ ist bisher das einzige Streaming-Album mit Platinum-Status. Ironischerweise wird selbst das finanzielle Leiden der Künstler durch die so allgegenwärtige Streaming-Kultur unfreiwillig aufgegriffen, als Kanye wenige Zeit nach der ersten Präsentation seines Albums auf der New York Fashion Week auf Twitter beklagt, dass er eine halbe Milliarden Dollar Schulden hat, und gleichzeitig Mark Zuckerberg um eine Spende („ein Investment“) bittet.
In „Real Friends“ beklagt Kanye, wie sein Cousin ihn mit einem Sexvideo um Geld erpresst. Kurz vor Release des Albums leisten sich Kanye und Wiz Khalifa einen ausgiebigen Twitter-Streit um Amber Rose. Zeitgemäßer geht es wohl kaum.
Ihr mögt „Life of Pablo“ nicht? Ihr mögt 2016 nicht.
Sorry to say, Kritiker, Fans, und Charts. Es gibt kaum ein Album, welches unseren Zeitgeist so sehr repräsentiert wie „Life of Pablo“.
Wie oft habt ihr es eskalieren lassen, jegliche religiösen Werte auf den Müllhaufen geschickt? Wie oft habt ihr vor euren Klausuren dann doch gebetet? Wie sehr ist unser Leben von Widersprüchen geprägt, die wir nicht miteinander vereinen wollen?
Studenten lernen an der Uni, wie Postmodernismus durch Fragmentierung und Unvollständigkeit geprägt ist, aber können ein wirklich fragmentiertes und unvollständiges Album nicht anerkennen. Wie sehr steht „Life of Pablo“ für Streaming- und Internet-Kultur, die ihr alle benutzt, tag ein tag aus?
Aber auch „Life of Pablo“ nicht zu mögen ist Teil des Zeitgeists. Denn Teil des Zeitgeists 2016 ist es, 2016 nicht zu mögen. Sich zurück zu sehnen nach Zeiten, in denen es noch Plattenspieler und Analogkameras gab, in denen Beleidigungen und Diskussionen noch unmittelbar- und nicht über Twitter vor der ganzen Weltöffentlichkeit ausgetragen wurden. Ob Kanye selbst 2016 mag? In „I love Kanye“ hört sich das zumindest ein bisschen anders an:
I miss the old Kanye, straight from the Go Kanye
Chop up the soul Kanye, set on his goals Kanye
I hate the new Kanye, the bad mood Kanye
The always rude Kanye, spaz in the news Kanye
I miss the sweet Kanye, chop up the beats Kanye
I gotta say, at that time I’d like to meet Kanye
(I Love Kanye)
Ob ihr es mögt oder nicht. Life of Pablo ist 2016.
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