Enttäuschte Liebe, gescheiterte Beziehungen und mit beidem verbunden übergroßer seelischer Schmerz. Daraus wächst ein beträchtlicher Teil von Soul Music. Diesmal hat India.Arie es damit übertrieben, meint eine Menge Kritiker. Soll sie doch eine (Musik-) Therapie machen, aber kein Album, damit sie sich besser fühlt! Das würde ich sagen, wenn ich mich anschließen würde. Mach ich aber nicht.
Auf „Testimony Vol. 1: Life & Relationship“ verarbeitet India.Arie ihren privaten Liebesschmerz, das verhilft ganz von alleine zu größter Authentizität. Nichts gegen Künstler wie Ne-Yo und R. Kelly, die scheinbar einen Song nach dem anderen schreiben können und einen Output haben, dass sie die Hälfte aller R&B-Künstler gleich mit versorgen.
India.Arie geht seit jeher einen anderen Weg und ist bei ihrer Arbeit sympathisch langsam, weil sie ihre Lieder gleichsam aus ihrem ihrem Seelenleben herausschnitzt. Das ist kein Prozess, der wie am Fließband funktioniert. Philosophie – auch für den Hausgebrauch – wird nicht wie Tütensuppe zubereitet: Beutel aufreißen, heißes Wasser drauf, umrühren, fertig!
Kompliziert sind die Lieder auf „Vol. 1: Life & Relationship“ deshalb allerdings noch nicht, der umständliche Titel mag so etwas andeuten. Die Kritik wendet sich zum Teil gerade gegen eine gewisse Plumpheit. Zum Teil muss ich da auch den Kopf schütteln wie bei „Wings Of Forgiveness“, wenn sie singt: „…when Nelson Mandela can forgive his oppressors, surely I can forgive you.“ Ein gebrochenes Herz zu haben, damit zu vergleichen, wie Nelson Mandela, neben Martin Luther King und Malcolm X die (!) Symbolfigur im Anti-Apartheid-Kampf, in seinen mehr als drei Jahrzehnten als politischer Gefangener gelitten hat, ist keine gute Idee. Sie wird nicht dadurch besser, dass India.Arie durch ein persönliches Treffen mit Mandela bei einem Benefiz-Konzert dazu inspiriert wurde, ihn in ihrer Musik zu erwähnen.
Sehr begrüße ich hingegen, dass sie ihre Songs nicht pseudo-intellektuell verkompliziert, sondern eine klare Sprache spricht, so dass ihre Zuhörer gut nachvollziehen können, wie es in ihrer Gefühlswelt aussieht – mitfühlen können. Wer sich auf „Good Mourning“ einlässt, kann zu Tränen gerührt sein, auch wenn er momentan in einer glücklichen Beziehung lebt, denn India.Arie erzählt bestechend anschaulich, wie es sich anfühlt, nach dem Ende einer Beziehung morgens alleine den Tag zu beginnen. Sie ist zwar nicht die Erste, die auf das Wortspiel „mourning“ (Trauer, auch Trauerarbeit) statt „morning“ (Morgen) im Titel setzt, doch es passt hier bestens. So wie India.Arie mit ihrer rauchig-sanften Stimme einige Silben dehnt, erinnert sie mich stark an Sade.
Musikalisch wirkt „Testimony Vol. 1: Life & Relationship“ noch komplexer und detail-orientierter als die Vorgänger. Spürbar stärker lebt die Künstlerin ihre Liebe zu Country Music aus: Auf „Summer“ ist sogar Gary LeVox von den Rascal Flatts dabei. Selbst Akon bringt sie auf „I’m Not My Hair“ dazu, ein wenig countrylike zu klingen. Dass ausgerechnet dieser Track die Vorabsingle war, verstehe ich bis heute nicht, denn auch wenn die Nummer richtig cool ist – und die Maxi wegen richtig guter Remixe die Anschaffung lohnt – knüpft sie damit für meinen Geschmack zu sehr bei ihrer eigenen Vergangenheit an: Wie in „Video“ aus 2001 lautet die Message: Äußerlichkeiten wie das Haar sind nicht so wichtig, sondern die Seele. India.Arie bricht eine Lanze für die (vor allem Frauen), die sich nicht dem Erwartungsdruck anderer beugen wollen – ob es nun darum geht, Silikon im Busen abzulehnen oder um die Frisur. Kritisch anmerken möchte ich: Wer bei der „Gen-Lotterie“ so viel Glück gehabt hat wie India.Arie, kann leicht natürliche Schönheit predigen.
Die Kritik im Kleinen ändert nichts daran, dass „Vol. 1: Life & Relationship“ eines der wichtigsten Black Music Alben in 2006 ist. Auf ihrem dritten Studioalbum schöpft India.Arie aus ganz unterschiedlichen Stilen, zu denen auch Folk und Country gehören und macht daraus ein sehr reichhaltiges Soul-Werk, mit dem sie Neo Soul ein Stück weiter bringt.
Künstler: | Album: | Label: Motown (Universal) | VÖ: 23. Juni 2006