Ausgerechnet Ohio! Dort kommt der Newcomer Lyfe Jennings her, aus Toledo. Wenn in amerikanischen Filmen oder Serien ein Ort genannt werden soll, der kein besonderes Image hat wie zum Beispiel New York, Miami oder Las Vegas bzw. ein Durchschnitts-Bundesstaat gebraucht wird, dann ist es meist Ohio oder eine Stadt in dem kleinen Staat. Achtet mal darauf!!
Alles andere als ein Otto Normalbürger ist der Musiker Lyfe Jennings, der mehr als 200 Songs vorrätig hat. Nicht, dass er in seiner Kirchenchorzeit als Kind schon mit dem Schreiben so heftig angefangen hätte oder dann mit seiner Gruppe The Dotsons. Aber zwischendurch hatte er viel, sehr viel Zeit. Der Albumname „LYFE 268-192“ deutet schon an, wo er zwischendurch gewohnt hat, spielt auf die Nummer, die er im Knast war, an.
Wer so offensiv mit dem Thema Gefängnisaufenthalt umgeht, hat sich oft ein Motto wie „Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter.“ auf die Fahnen geschrieben, doch Lyfe Jennings ist kein Gangsta-Rapper, sondern ein R&B-Musiker mit einem wunderbar ungeschliffenen Sound, der auf diese Weise angenehm erfrischt.
In einer Biographie wie seiner bekommt ein Begriff wie Release Date eine zweite Bedeutung. Und wirklich, als er im Dezember 2002 aus der Haft entlassen wurde, hat er nicht lange gefackelt, sondern gleich am zweiten Tag eine CD mit vier Songs eingesungen, tags darauf stand er im Club auf der Bühne. Im Januar 2003 begeisterte er das Publikum im legendären Apollo Theatre in Harlem. Fünfmal in Folge gewann er den Amateur-Wettbewerb, so haben auch schon andere Musiker-Karrieren angefangen!
Musikalisch bewegt sich dieser neue R&B-Mann im Slow Jams- und Midtempo-Bereich – es darf schon mal ordentlich grooven, doch richtige Party Tracks finden sich überhaupt nicht auf „LYFE 268-192“, was ein Fehler sein mag in Hinsicht auf breiteres Airplay. Für die Clubs lassen sich aus dem Midtempo-Tracks durchaus tanzbare Remixe machen, wenn man das will. So positioniert sich Lyfe Jennings ein wenig einseitig in ruhigen, nachdenklichen, sanften Bereichen, doch ist das für mich kein Grund, diese CD schlechter zu bewerten. Mutig ist es aber schon, denn selbst die von ihm so bewunderte Erykah Badu (deren 97er „Baduizm“-Debüt ihn damals im Gefängnis erreichte und die musikalische Entwicklung angestoßen hatte) verzichtet nicht auf einige kräftige Songs.
Mit Lyfe Jennings betritt ein Mann die Arena, der den ganzen Hype um Neo Soul nur von seiner Zelle aus erlebt hat, jemand, der unser Vorstellungsbild von Singer-Songwriter-Producer-Talenten, die mit akustischer Gitarre auftreten, gehörig durcheinander schütteln kann. In den zehn Jahren, die er wegen Brandstiftung saß, hat er viel Zeit zum Nachdenken gehabt und diese Zeit offensichtlich gut genutzt.
Künstler: Lyfe Jennings | Album: LYFE 268-192 | Label: Columbia | VÖ: 27. September 2004